Die erste Wahrnehmung der Krise

Die große Wirtschaftskrise, die große „Depression“, die durch den „Schwarzen Freitag“ (Donnerstag), den großen Börsencrash am 24. Oktober 1929 in New York ausgelöst wurde, kam in Schwaben erst ein Dreivierteljahr später an. Man war daran gewöhnt, dass jedes Jahr im Sommer die Arbeitslosenzahlen zurückgingen, doch in diesem Jahr musste man zur Kenntnis nehmen, dass die wirtschaftliche Erholung weitgehend ausblieb. So teilte der Regierungspräsident von Schwaben, Graf Spreti, am 7. August 1930 in seinen vierzehntägigen Berichten an die Bayerische Staatsregierung mit:

„Die gewerbliche Lage hat sich nicht nur nicht gebessert, sondern eher noch verschlechtert. Von verschiedenen Betrieben wird über Mangel an Aufträgen berichtet, der teilweise sogar zu einer Verkürzung der Arbeitszeit zwingt.“

Das klingt noch nicht sehr dramatisch, geht es doch (noch) nicht um ein gigantisches Anschwellen der Erwerbslosenzahlen sondern „nur“ um die Einführung von Kurzarbeit in einer Reihe von Betrieben. Noch scheint der Regierungspräsident nicht besonders beunruhigt.

Denn die wirkliche Bedeutung der Ereignisse in New York dürfte Spreti wie der Mehrzahl der Zeitgenossen damals gar nicht bewusst gewesen sein. Diese Ereignisse wurden weder in seinen Berichten erwähnt, noch hatten sie zu großen Schlagzeilen in der Presse geführt. Nur die Börsenkenner dürften sie überhaupt zur Kenntnis genommen haben, denn nur im Wirtschaftsteil der Zeitungen hatte man darüber etwas lesen können. 

 Doch die Stimmung der Bevölkerung ist dennoch aufs höchste besorgt. Spreti: 

 „Die wirtschaftliche Lage erinnert in manchen äußeren Erscheinungen an die des Sommers 1923, wenn auch die Ursachen verschieden sind und die Währung unberührt bleibt. Die Lebenshaltung der kleinen und mittleren Geschäftsleute ist vielfach stark herabgesetzt; viele Zusammenbrüche kleiner Geschäfte konnten wohl nur durch große persönliche Opfer vermieden werden. Wir konnten jedoch allgemein die Überzeugung bestätigt finden, dass die Wirkungen der Krise in Mitteldeutschland und im Rheinland ernster sind, als bei uns, weil man sich dort einer größeren Zuversicht auf die Gestaltung der Wirtschaft hingegeben und größere Verpflichtungen gewagt hat, als im Süden.“ [7.8.30]

Mit anderen Worten: Die schwäbische Sparsamkeit habe dafür gesorgt, dass sich die hiesige Wirtschaft nicht so stark verschuldet hatte wie die in „Mitteldeutschland“ und im „Rheinland“. Dies zumindest deutet Spreti hier an. Nun, das vorsichtige Wirtschaften der Unternehmer in Bayerisch-Schwaben mag wohl eine Rolle gespielt haben, aber eine zutreffende Erklärung für die großen Unterschiede der Verhältnisse innerhalb Deutschlands bietet Spretis These nicht.

Richtig ist: Schwaben kam relativ glimpflich durch die Krise. Aber dies ist in allererster Linie auf seine unterschiedliche Wirtschaftsstruktur, den unterschiedlichen Grad der Industrialisierung zurückzuführen. Dies dürfte natürlich auch Graf Spreti bewusst gewesen sein, vermutlich war dies für ihn so selbstverständlich, dass er es gar nicht für erwähnenswert hielt.

Bayern war damals noch weitgehend ein Agrarstaat, und Schwaben lag beim Entwicklungsstand  seiner Industrie so in etwa im Mittelfeld, sehr nahe am (rechtsrheinisch) bayerischen Landesdurchschnitt. Und der Vergleich der Verhältnisse in den bayerischen Bezirken zeigt sehr eindringlich: Je höher der Anteil der Beschäftigten in den nichtagrarischen Wirtschaftssektoren war, also in Industrie und Handwerk, Handel, Verkehr und Dienstleistungen, desto höher stieg auch die Arbeitslosenquote auf dem Höhepunkt der Krise.

Mit anderen Worten: So sehr auch die Landwirtschaft in der Krise durch immer weiter fallende Preise zu leiden hatte, es wurden dadurch bis zu diesem Zeitpunkt keine landwirtschaftlichen Arbeitskräfte freigesetzt. Im Gegenteil, man hatte immer noch mit Dienstbotenmangel zu kämpfen. Die Arbeitsplatzverluste erfolgten praktisch ausschließlich im Bereich der gewerblichen Wirtschaft.