Textilindustrie in der Krise

Im 2008 erschienenen Katalog zur Ausstellung „Machtergreifung in Augsburg“ heißt es auf Seite 279:

„Mit dem amerikanischen Börsenkrach am 24. Oktober 1929 nahm eine beispiellose weltweite Wirtschaft-und Finanzkrise ihren Anfang […] Augsburg traf die Krise doppelt hart: Die Maschinen- und Textilindustrie bildete den größten Arbeitgeber der Stadt und litt schwer unter der Depression.“

Was heißt das: doppelt hart? Das kann nur so gemeint sein, dass sowohl Maschinenbau als auch Textilindustrie schwer unter der Depression zu leiden hatten.

Das klingt zunächst einmal durchaus plausibel. Denn beide großen Industriezweige dürften sicherlich sehr stark krisenanfällig gewesen sein. Doch auch plausible Aussagen müssen auf den Prüfstand. Was sagen die Zahlen?

Es werden von den Autoren keine Zahlen als Beleg genannt. Das mag sicherlich auch daran liegen, dass der Zugang zu den Zahlen der Betriebszählung 1925 und 1933 äußerst umständlich war, konnten die Historiker damals doch nicht einfach auf eine elektronische Datenbank zugreifen, die die relevanten Daten in Sekundenschnelle ausspuckt.

Das ist jetzt anders. Die Digitalisierung der Zahlen ist zwar auch sehr arbeitsintensiv, aber ist sie erst einmal vollzogen, dann kann man nicht nur mühelos auf die Daten zugreifen, sondern sie auch gleich visualisieren.

Hier ist das Resultat:

Diagramm 1
Diagramm: Beschäftigte in Augsburg

Man sieht auf den ersten Blick: Der Maschinenbau ist total eingebrochen, ebenso die Elektro-Industrie, gar nicht zu reden von der Bauwirtschaft. Aber die Textilindustrie hat sich nicht nur gehalten, sondern sie hat sogar einen kleinen Beschäftigungsgewinn zu verzeichnen, trotz der Krise. 

 Kann das sein? Liegt hier kein Irrtum vor? Wie sehen denn die Zahlen für den ganzen Regierungsbezirk Schwaben aus?

Hier sind sie:

Diagramm: Beschäftigte in Schwaben 1925 und 1933

Wir sehen: Auch in ganz Schwaben hat sich die Textilindustrie relativ gut gehalten. Zwar hatte sie auch Verluste zu verzeichnen, doch sind diese auffällig gering. Wo gab es denn die Verluste, sind sie flächendeckend gestreut oder auf bestimmte Orte konzentriert?

Darüber gibt uns die folgende Karte Auskunft, die die Entwicklung in den „Textilzentren“ des Regierungsbezirks darstellt. Damit sind die Städte und Landkreise gemeint, in denen die Textilindustrie eine starke Stellung innehatte.

Gelb sind die Gebiete dargestellt, die stabil waren, in denen es keine nennenswerte Veränderung oder höchsten leichte Verluste bzw. Gewinne gab. Zu ihnen gehören, außer Augsburg, auch die Landkreise Sonthofen, Neu-Ulm und Schwabmünchen, sowie die Stadt Kaufbeuren. Im Landkreis Kempten (orange) gab es einen Zugewinn an Arbeitsplätzen, in den hellgrün gekennzeichneten Gebieten gab es Verluste (die Landkreise Füssen, Augsburg und Dillingen, sowie die Städte Günzburg und Memmingen. Extrem starke Verluste (dunkelgrün) gab es nur in einem Gebiet, im Landkreis Kaufbeuren. Hier wurde die bislang starke Textilindustrie bis auf winzige Restbestände praktisch ausgelöscht. 

Insgesamt bleibt festzustellen, dass die Entwicklung der Textilindustrie sehr unterschiedlich verlief. Aber im Endeffekt hat sie sich in Schwaben relativ gut gehalten. Das sagen die Zahlen. Aber was sagen die Menschen, die Zeitgenossen, die alles miterlebt haben? Was können wir den schriftlichen Quellen entnehmen, den Zeitungsberichten und insbesondere den Berichten des Regierungs­präsidenten von Schwaben, Graf von Spreti?  

Vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise, zu einer Zeit, als es den meisten Branchen gut ging, war die Textilindustrie in tiefen Schwierigkeiten. Im Geschäftsbericht der Augsburger Baumwollspinnerei und Weberei für das Jahr 1929 war von einer „schweren Krise“ die Rede, von schleppendem Absatz und „ungenügenden Preisen“. Doch nicht alle Firmen stuften ihre Lage als katastrophal ein, ein gewisser Optimismus blieb erhalten, viele hatten erhebliche Mittel für die Modernisierung der Betriebe aufgewendet.

Und tatsächlich kam es bei einigen Textilbetrieben im Laufe des Jahres 1930 zu einer „Geschäftsbelebung“, da die Rohstoffpreise gefallen waren. Und auch 1931 berichtete der Regierungspräsident von Schwaben, dass bei anhaltend schlechter Lage in der gesamten gewerblichen Wirtschaft bei der Textilindustrie eine „leichte Auftragsmehrung“ zu verzeichnen sei.

Aber das galt natürlich nicht für alle Textilfirmen. Am 5. Februar 1932, auf dem Höhepunkt der Krise, berichtet Spreti:

„Aus der Industrie wird eine weitere Verschlechterung der Arbeitslage gemeldet. Insbesondere klagte die Textilindustrie im Bezirk Sonthofen über das völlige Ausbleiben neuer Aufträge. Die Kundschaft halte mit Bestellungen in der Hoffnung auf weitere Preissenkungen zurück, außerdem kämen durch das Fehlen eines Schutzzolls die Waren aus Italien und Amerika wesentlich billiger rein, als sie bei uns geliefert werden könnten. Die Weberei Fischen soll am 5. Februar stillgelegt werden. Die Hanfwerke Immenstadt arbeiten nur noch 28 Stunden in der Woche. [Die ]Direktion befürchtet ein vollständiges Erliegen des Werkes, wenn die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse nicht eine baldige Besserung erfahren.“

Und nur 14 Tage später schreibt er:

„Die Beschäftigung in der Textilindustrie ist, wie schon bisher, ganz verschieden. Wie sehr die persönliche Leitung und die Erfahrung aus der Vorkriegszeit auf das Geschäft von Einfluss sind, ergibt sich daraus, dass die Augsburger Kammgarnspinnerei ständig mit voller Belegschaft arbeitet und 12 % Dividende verteilen konnte. Auch die Nähfadenfabrik Göggingen hatte diesen Hundertsatz an Dividende zur Ausschüttung gebracht. Andere Textilbetriebe haben kaum Arbeit. Die Hanfwerke Füssen arbeiten nur noch zwei Tage in der Woche.“

Vor allem die Augsburger Werke konnten sich relativ gut halten. Im März berichtet der Regierungspräsident:

„Dagegen hat sich die Lage der Textilindustrie in Augsburg rein auftragsmäßig weiter günstig gestaltet, sodass wohl alle Betriebe voll arbeiten und einzelne von ihnen sogar noch Arbeitskräfte einstellen konnten.“

Im April wurde sogar in einigen Werken der Zweischichtbetrieb wieder eingeführt. Außerhalb Augsburgs aber ist die Lage weiterhin sehr unterschiedlich. Spreti im September 1932:

„In der Textilindustrie bleibt das Geschäft völlig undurchsichtig. In den Spinnereien ist auf die Befestigung des Baumwollpreises hin wieder gekauft worden, wenn auch zu schlechten Preisen. In den Baumwollwebereien sind geplante Entlassungen zurückgenommen worden. Ungünstig ist die Lage in der Kunstseidenindustrie, da durch die Verbilligung der Baumwollgewebe die Nachfrage nach Kunstseide abgenommen hat.“

Spretis Bericht im Oktober 1932 ist allerdings spürbar optimistischer:

„In der Allgäuer Baumwollspinnerei- und Weberei Blaichach wurden […] 70 Arbeiter neu eingestellt; es wird in den verschiedenen Abteilungen mit 40, 35 und 32 Wochenstunden gearbeitet.

Auch in der Leinenspinnerei und Weberei in Bäumenheim wurden neuerdings mehrere Arbeiter eingestellt. Dem Vernehmen nach soll die Arbeit für den kommenden Winter gesichert und eine Arbeitskürzung oder Arbeiterausstellung vorerst nicht zu befürchten sein.“

Im Januar 1933 zeichnet sich deutlich ab, dass die Krise ihren Höhepunkt überschritten hat. Aber der Blick in die Zukunft ist immer noch sehr sorgenvoll. Spreti:

„In der Augsburger Industrie ist festzustellen, dass trotz der winterlichen Abschwächung auf dem Arbeitsmarkte am Ende 1932 mehr Arbeitskräfte als in den ersten Monaten des Jahres beschäftigt waren. Die Textilindustrie ist noch gut beschäftigt. Für die Zukunft ist die Lage allerdings ungeklärt. Die Ausfuhr der Augsburger Buntweberei nach England ist durch die Entwertung des Pfundes unmöglich geworden.“

Wir können also konstatieren, dass die Berichte Spretis unsere Ergebnisse der Datenauswertung vollständig bestätigen. Auch die – gut informierten – Zeitgenossen konnten also wahrnehmen, dass die Textilindustrie sich örtlich sehr unterschiedlich entwickelte, im Gesamtvergleich mit anderen Branchen aber relativ günstig abschnitt.

Dies zeigt auch eine am 24. September 1932 in der Augsburger Postzeitung abgedruckte Grafik, die die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in einzelnen Branchen im gesamten Deutschen Reich wiedergibt. Sie basiert auf den Beschäftigungszahlen der Arbeiterfachverbände.

Grafik
Arbeitslosigkeit in den wichtigsten Gewerbegruppen

Hier zeigt sich, dass die Textilindustrie bis Anfang 1932 zwar steigende Arbeitsplatzverluste hinnehmen musste, dass diese aber deutlich geringer ausfallen als bei den Metallarbeitern oder gar in der Baubranche.

Die Zeitgenossen haben diese Trends nicht nur wahrgenommen, es gab sogar erste Erklärungs­versuche dafür. So druckte die Augsburger Postzeitung am 26. November 1931 einen offensichtlich von einem Fachmann geschriebenen Leserbrief ab, der sich Gedanken über die Ursachen der Entwicklung machte. Er trug die Überschrift:

 „Das Deutsche Textilgewerbe emanzipiert sich langsam von der Krise“.

              „Man schreibt uns:

Der Beschäftigungsgrad der Textilindustrie ist während der letzten Monate ziemlich stabil geblieben. Nach dem Stande von Anfang November waren 64,4 Prozent der Arbeitskräfte als voll beschäftigt gemeldet gegenüber gleichfalls 64,4 Prozent zu Beginn Oktober um 64,5 Prozent Anfang August. Während 1929 die Textilindustrie als „Schrittmacher“ der Krise angesehen wurde, hat sich bereits 1930 und besonders im laufenden Jahre das Tempo ihres Abstiegs verlangsamt. Das geht deutlich aus einem Vergleich der Vollbeschäftigten-Ziffer des Textilgewerbes mit dem Durschnitt sämtlicher Verbrauchsgüterindustrien hervor. Im November 1929 lag die Textil-Ziffer mit 83,3 Prozent merklich unter den Gesamtdurchschnitt (85,5 Prozent), im vorigen Jahre war mit je 72,4 Prozent ein Gleichstand zwischen Textilindustrie und Gesamtdurchschnitt hergestellt und Anfang November 1931 liegt die Textilbeschäftigung mit 64,4 Prozent bereits wesentlich über dem Durchschnitt (60,8 %). Auch die jüngsten Abschlüsse einiger führender Textilwerke (…) deuten darauf hin, dass das Schlimmste überwunden zu sein scheint.

Eine wesentliche Erleichterung ist dem Textilgewerbe durch die Entwicklung des Preisniveaus zuteil geworden. Infolge des scharfen Abstiegs der Rohstoffnotierungen war auch eine Senkung der Garn- und Gewebepreise in größerem Umfange möglich. Eine weitgehende Anpassung an die schrumpfende Konsumkaufkraft konnte durchgeführt werden, die wiederum auf die Höhe der Umsätze zurück wirkte. Der Großhandelsindex für Textil-Fertigwaren hat sich innerhalb des letzten Jahres um 20,9 Prozent, seit 1929 sogar um 22,5 Prozent ermäßigt, während der Gesamtindex der Verbrauchsgüter seit 1930 nur um 9,2 Prozent und seit 1929 um 14,8 Prozent nachgegeben hat. Andererseits aber ist der Großhandelsindex für Textilien (= Rohstoffe) seit dem Vorjahr um 46,3 Prozent gesunken, gegenüber 1929 sogar um 56,8 Prozent. Im Oktober des Jahres hat er mit 67,1 Prozent seinen tiefsten Stand in der Nachkriegszeit erreicht und bewegt sich bereits mehr als 30 Prozent unter der Basis des letzten Vorkriegsjahres.“

Mit anderen Worten: Die Textilindustrie profitierte von der Deflation. Ihre Rohstoffe wurden dramatisch billiger, das Preisniveau ihrer Fertigwaren sank zwar auch entsprechend dem allgemeinen Trend, aber bei weitem nicht so stark wie die Rohstoffe. Zum Beleg führt der Leserbriefschreiber folgende Statistik an:

Großhandelsindex-Ziffern (1913 = 100)

Textil-
Rohstoffe
Textil-
Fertig-
waren
Gesamte
Fertig-
waren
Oktober
1929
153,0182,4 156,6
Oktober
1930
125,1 177,3  146,9
Oktober
1931
67,1  141,3    133,4

Das sind eindrucksvolle Zahlen. Aber wir wollen das Thema nicht weiter vertiefen, sondern noch einmal zurück zur Stadt Augsburg. Dass die Stadt „doppelt“ durch die Wirtschaftskrise getroffen wurde, lässt sich also angesichts der Zahlen der Betriebszählungen 1925 und 1933 aber auch angesichts der Schilderungen der Zeitgenossen nicht halten. Textilindustrie und Maschinenbau darf man nicht über einen Kamm scheren, sondern beide nahmen eine völlig unterschiedliche Entwicklung.

Zahlen sind ein absolut unvollkommenes Mittel, um die ganze Realität zu beschreiben, das bedeutet aber nicht, dass sie wertlos wären. Was man messen kann, sollte man auch messen. Dabei muss man freilich im Hinterkopf behalten, dass dies natürlich nicht die volle Botschaft sein kann, weil viele Phänomene nicht zählbar sind, oder nicht gezählt wurden. (Z. B. Kurzarbeit, genaue Lohn- und Preisentwicklung auf regionaler Ebene, usw.)

Augsburg war durch die Wirtschaftskrise durchaus hart getroffen, aber alles ist relativ. Deshalb ist auch ein Vergleich der Arbeitslosenzahlen mit denen anderer Städte sinnvoll. In Augsburg gab es 20,2 Prozent Erwerbslose (1933).

Das ist eine hohe Zahl. Doch in den Ruhrgebietsstädten lag die Arbeitslosigkeit im Schnitt bei über 33 Prozent, in der Stadt Herne bei 40,5 Prozent, also doppelt so hoch wie in Augsburg. Auch München war mit fast 23 Prozent und Nürnberg mit 26,7 Prozent deutlich schlechter gestellt als Augsburg.

Wer die Zahlen nicht ignoriert, muss zu dem Fazit gelangen: Augsburg und Schwaben sind relativ glimpflich durch die Krise gekommen.

 

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Dies ist ein kurzerAuszug aus dem Kapitel der Studie „Schwaben in der Weltwirtschaftskrise“, die als pdf angefordert werden kann. Darin werden behandelt:

Schlüsseldaten der Branche

Die geografische Verteilung der Branche (Standortfaktoren)

Die Sparten der Textilbranche (Baumwolle, Seide, Wolle etc.)

Die Auswirkungen der Krise