Wie es der schwäbischen Milchwirtschaft erging

Was glauben Sie, wo in Schwaben in den 20er Jahren mehr Leute beschäftigt waren

– in Brauereien

– oder Molkereien?

Das zweite stimmt. Und zwar waren fast doppelt so viele Personen in der Milchverarbeitung (Butter, Käse etc.) tätig wie in den Brauereien.  Die Milch spielte in Schwaben eine ganz herausragende Rolle, die Sparte Molkereien war hier die zweitgrößte innerhalb der Lebensmittelbranche.

Die ungewöhnlich starke Bedeutung der Milchverarbeitung ist zweifellos auf die landwirtschaftliche Struktur zurückzuführen: Im Allgäu überwog die Nutzungsform Wiesen/Weiden weit vor allen anderen (siehe Menu: Landeskunde/Landwirtschaft).

Der für diese Sparte benötigte Rohstoff wurde vor Ort gewonnen, musste also nicht importiert werden, wie die meisten anderen Rohstoffe. Die „Rohstofflieferanten“, die Milchkühe, waren entsprechend der Nutzflächenstruktur mit starkem Süd-Nordgefälle im Bezirk verteilt.

Karte: Milchkühe je ha Nutzfläche

Auch die milchverarbeitenden Betriebe waren deshalb stark im Allgäu konzentriert, der Rohstoff als Standortfaktor war also entscheidender als die Nähe zum Verbraucher (vor allem zur Großstadt Augsburg). 

Karten: Molkereien je 10.000 Einwohner und Beschäftigte in der Milchwirtschaft je 1.000 Einwohner

Legende: Standard Quintile (siehe oben)

Allerdings war auch das nördliche Allgäu sehr stark mit Milchbetrieben versorgt, was dann doch an der größeren Nähe zum Verbraucher und an den kürzeren Verkehrswegen gelegen haben mag. Man kann auch sagen, das Allgäu war mit Molkereien „überversorgt“, denn zweifellos hätte es für die Allgäuer Milchprodukte kaum genügend Abnehmer vor Ort gegeben.

Diese Produkte wurden für die Versorgung anderer Regionen, aber auch für den Export hergestellt. Allgäuer Käse wurde international gehandelt (an der Berliner Börse), tat sich aber schwer, mit der holländischen und dänischen Konkurrenz mitzuhalten.

Welche Auswirkungen hatte nun die Wirtschaftskrise auf die schwäbische Milchwirtschaft?

Dies zeigt die folgende Grafik und zwar im Vergleich mit den anderen Lebensmittelsparten. Um die Veränderungen leichter sehen zu können wurde hier ein Index verwendet: Der Stand von 1925 wurde als 100 Prozent gesetzt.

Die Entwicklung in den Molkereien verläuft ganz untypisch im Vergleich zur restlichen Lebensmittel-Branche. Bei Milch haben wir einen deutlichen Rückgang bei der Zahl der Betriebe, während bei Brot, Fleisch und Bier neue Betriebe dazukamen.

Bei diesen drei Sparten sind die Symptome der „Flucht in die Selbständigkeit“ fast ebenso deutlich zu registrieren wie z.B. beim Handel. Zu diesem Phänomen  gehört nicht nur die Zunahme der Betriebe sondern auch die Ersetzung eines großen Teils der Arbeiter durch mithelfende Familienmitglieder oder Lehrlinge.

Trotz geringer Betriebsgrößen ist bei den Molkereien der Arbeiteranteil an den Beschäftigten vergleichsweise hoch. Und er nimmt deutlich weniger ab, als in den anderen Sparten.

Die eigentliche Sensation steckt aber in den absoluten Zahlen: Nach der Krise gibt es nicht nur mehr Beschäftigte in dieser Sparte, was in vielen Branchen und Sparten der Fall ist, sondern auch mehr Arbeiter (siehe oben Diagramm „Lebensmittelsparten 1933“). Natürlich kam es auch in der Milchwirtschaft zu Entlassungen von Arbeitern , aber im Saldo überwiegen die Neueinstellungen.

Der vermutliche Grund für diese Entwicklung: Offensichtlich waren die Arbeiter in der  Milchwirtschaft nicht so leicht zu ersetzen, denn hier waren gewisse Fachkenntnisse wohl unverzichtbar, sodass ungelernte Familienmitglieder nicht so ohne weiteres eingesetzt werden konnten.

Karte: Die Entwicklung der Arbeiterzahlen in der Milchwirtschaft 1925-33 (in Prozent der gewerblich Beschäftigten)

In der regionalen Verteilung sehen wir, dass es sehr unterschiedliche Entwicklungen gab. Vor allem im Südallgäu wurden Arbeiter entlassen, im Nordallgäu wurden hingegen Arbeiter zusätzlich eingestellt, zum Teil (Marktoberdorf) sogar in beträchtlicher Anzahl.

Karte: Veränderungen bei der Anzahl der Betriebe in der Milchwirtschaft 1925-33 (in Prozent aller gewerblichen Betriebe)

Betriebsstillegungen von Molkereien waren weit verbreitet, aber der südlichste Landkreis des Bezirks, Sonthofen, sticht auffällig hervor. In den Berichten des Regierungspräsidenten von Schwaben an die Staatsregierung in München wird schon 1927 darauf hingewiesen, dass es im Allgäu viele Kleinbetriebe in der Milchwirtschaft gab, die sich die notwendige gewordene technische Modernisierung einfach nicht leisten konnten:

„Wenn auf diese Weise [durch die Einführung eines Qualitätssigels] die qualitätsminderen Milchprodukte auf dem Großstadtmarkte unverkäuflich werden, dann wird wohl die nicht unerwünschte [!!!] Folge eintreten, dass so manche kleinen, den neueren technischen Forderungen nicht entsprechenden Sennereien ihren Betrieb schließen müssen.“ (siehe Buch, Seite 17)

Vergleicht man die Karte der Anzahl der Betriebe mit der der Arbeiter, ergibt sich ebenfalls ein auffälliger Unterschiede zwischen dem Süd- und dem Nord-Allgäu: Während im Süden der Verlust an Betrieben auch zu größeren Freisetzungen von Arbeitern führte, war dies im nördlichen Allgäu nicht der Fall.

Im Gegenteil. Besonders sichtbar wird dies im Landkreis Marktoberdorf: Hier kam es zu einer starken Zunahme von Arbeitern, obwohl die Zahl der Betriebe abnahm. Das bedeutet, Betriebe wurden erweitert oder aufgegebene Kleinbetriebe wurden durch neuere, größere Betriebe ersetzt.

Dies zeigt sich auch in der Betriebsgrößen-Statistik: Das Anwachsen der Betriebsgrößen ist in allen Sparten der Lebensmittelbranche festzustellen, aber nirgends war es so groß, wie in der Milch-Sparte. Und die neu eingestellten Mitarbeiter waren hier in der Regel Arbeiter und keine mithelfenden Familienangehörigen oder Lehrlinge.

Fazit: Die Krise führte zu einem rasanten Verlust an Molkerei-Betrieben im Südallgäu, vor allem in der Stadt Lindau und im Landkreis Sonthofen. Im nördlichen Allgäu, aber nicht nur da, sondern im ganzen Bezirk, bewirkte sie offenbar einen Konzentrationsprozess in der Milchwirtschaft. Weniger aber größere und modernere Betriebe verdrängten die kleineren Betriebe.  

In Mittel- und Nordschwaben, also näher beim Kunden und bei den Fernverkehrswegen kam es – trotz Krise – vereinzelt zu Neugründungen von Betrieben, vor allem in Neu-Ulm, aber auch in der Großstadt Augsburg, in der die Sparte Milchwirtschaft aber weiterhin nur eine sehr marginale Rolle spielte.